Latein

Warum Latein?

„Latinum in latrinam!“

Hätte sich die 68er-Bewegung bildungspolitisch durchgesetzt, könnten Sie sich ohne weiteres anderen Bereichen unserer Homepage zuwenden, denn der Fachbereich Latein würde nicht existieren. Da aber dennoch ein öffentliches Interesse bestand, zwei Jahrtausende Dichtung, Theologie, Philosophie, Geschichtsschreibung, Jurisprudenz, Medizin und Naturwissenschaften nicht in der Toilette (latrina) verschwinden zu lassen, scheiterte diese Anti-Latein-Kampagne.

Heute, mehr als vierzig Jahre nach dem Versuch, Latein in der Versenkung verwinden zu lassen, ist das Fach noch immer fester Bestandteil des Fächerkanons von Gesamtschulen und Gymnasien und erfreut sich steigender Wertschätzung, ja man spricht sogar von einer Renaissance des Lateinischen. Latein ist nach Englisch und Französisch die drittbeliebteste Fremdsprache an deutschen Schulen.

Was hat dazu geführt, dass Latein trotz diverser Vorurteile („tote Sprache“ etc.) noch immer und in zunehmenden Maße von Schülerinnen und Schülern gewählt wird?

Viel mehr als Grammatik

Man hat auf die Kritik der Lateingegner reagiert: Gab es noch bis in die 70er-Jahre Lehrwerke, die nach dem Motto „Grammatik über alles!“ konzipiert waren, hat sich mittlerweile ein grundlegender Wandel vollzogen. Zwar muss die Grammatik noch immer gelernt werden, doch dient sie in erster Linie als Hilfsmittel, um lateinische Texte zu verstehen.

Früher war es die Regel, dass grammatische Strukturen anhand isolierter Einzelsätze gelernt wurden. Diese überlieferten, man sollte ja nebenbei auch etwas über die Römer erfahren, oft Weisheiten altrömischer Sittenwächter, die über interpretatorische Umwege mit der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schülern in Einklang gebracht wurden. Lateinschülerinnen und -schüler mussten sich dann parallel mit der Einführung des Konjunktivs im Hauptsatz und der Frage nach den Sinn des Lebens auseinandersetzen.

Im modernen Lateinunterricht hingegen steht zunächst der Inhalt des Textes im Vordergrund. Grammatik wird in neueren Lehrwerken oft induktiv eingeführt. Das bedeutet, dass neue grammatische Regeln anhand des sprachlichen Materials von Schülerinnen und Schülern selbst entdeckt werden (entdeckendes Lernen). In älteren Lehrbüchern wurde eher die sogenannte deduktive Methode bevorzugt, die die neue Grammatik erst präsentiert, um sie anschließend anwenden zu lassen.

Doch noch ist unsere Ausgangsfrage nicht beantwortet. Warum also Latein?

Gegen Ende der 6. Klasse müssen sich unsere Gymnasiasten entscheiden, welche zweite Fremdsprache sie wählen wollen. Diverse Faktoren beeinflussen die Entscheidung für Französisch oder Latein. Häufig sind es Erfahrungen der Eltern mit einer der Sprachen, das Wahlverhalten der Freundin oder des Freundes oder die Vermutung, dass eine der Sprachen einfacher zu erlernen ist. Latein hat den Ruf, „leichter“ als Französisch zu sein, da die aktive Anwendung der Sprache in der Regel nicht stattfindet. Das bedeutet, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist und Texte im Wesentlichen „nur“ vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt werden, was sich passives Sprachverständnis nennt, während es im Englisch- oder Französischunterricht zur aktiven Anwendung der Sprache kommt.

Häufig heißt es, wer gut in Mathematik ist, ist auch gut in Latein. Derartige Verallgemeinerungen vernachlässigen jedoch individuelle Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern und sollten deshalb nicht zur alleinigen Entscheidungsgrundlage gemacht werden.

Das Latinum als Ziel

Langfristiges Ziel aller Lateinschüler ist es, das Latinum zu erwerben. Schülerinnen und Schüler, die sich zum Ende der 6. Klasse zwischen Latein und Französisch entscheiden müssen, wissen zu diesem Zeitpunkt allerdings nur in den seltensten Fällen, ob sie das Latinum in ferner Zukunft als Voraussetzung für ein Studium benötigen werden. Für viele geistes- und sprachwissenschaftliche Studiengänge (Geschichte, Theologie, Philosophie, Archäologie, Romanistik, Anglistik) ist das Latinum auch nach der Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge noch immer Bedingung. Zwar kann das Latinum auch während des Studiums in Crash-Kursen von zwei bis drei Semestern an der Universität nachgeholt werden, doch bedarf es dafür eines erheblichen Lernaufwands, der zu Lasten der eigentlichen Studienfächer geht. Man muss sich vorstellen, dass der Stoff, den man in der Schule in fünf Jahren lernt, an der Universität in nur einem Jahr gelernt werden muss. Folglich ist der Prüfungserfolg nicht garantiert, die Durchfallquoten in diesen Schnellkursen sind extrem hoch. Alternativ könnte man versuchen, das Latinum in den Semesterferien zu erwerben und sich an einen kommerziellen Anbieter wenden. Dafür sollte man aber Kosten von bis zu 1000 Euro einkalkulieren.

Ganzheitliche Bildung

Neben diese praktischen Erwägungen für ein mögliches Studium tritt die Bedeutung des Lateinischen für eine ganzheitliche Bildung. Latein vermittelt sprachliche, historische und kulturelle Bildung. Wohl in keinem anderen sprachlichen Fach werden Wort- und Sprachgeschichte, Sprachbau und -typologie so wie im Lateinischen thematisiert.

Anhand der sogenannten Reflektionsprache Latein lernt man auch eine Menge über die eigene Muttersprache. Außerdem erweitern Lateinschüler ihre Fremdwörterkenntnisse und lernen insbesondere den richtigen Umgang mit diesen. Geschichte und Kultur des antiken Mittelmeerraumes, aber auch des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit zählen zum Bereich des Kulturwissens, das eine Grundvoraussetzung zum Verständnis lateinischer Texte darstellt.

Alltag der Römer

Kenntnisse des Alltags der Römer, der römischen Geschichte oder der griechisch-römischen Mythologie sind wesentliche Voraussetzungen, um die historische Kommunikation gelingen zu lassen. Hierfür ein Beispiel: Der Satz „Der Prätor geht in die Senat, begrüßt den Ädil und lässt sich von den Popularen feiern.“ mag richtig vom Lateinischen ins Deutsche übertragen worden sein, aber als Nicht-Lateiner hat man dennoch Verständnisschwierigkeiten, da die Terminologie aus dem Kontext der römischen Politik fremd ist.

Brückensprache

Latein ist zudem eine Brückensprache zu den modernen Fremdsprachen. Insbesondere das Erlernen der romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch) wird durch Kenntnisse des Lateinischen erleichtert. Auch sind viele Fremdwörter aus dem Lateinischen in die englische Sprache aufgenommen worden, so dass unter anderem das Verständnis wissenschaftlicher englischsprachiger Texte mit Lateinkenntnissen erheblich einfacher fällt.