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„Wer über gewisse Dinge seinen Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“ Lessings berühmtes Zitat spiegelt die Erschütterung wider, die wir 250 Jahre später angesichts der Rückkehr des Krieges nach Europa spüren.
Als wir das Wiener Forum-Theater in unsere Schule einluden, war nicht abzusehen, wie sehr sich unsere Welt in kurzer Zeit verändern sollte. Am Montag, den 14.03.2022, erlebten wir dann einen „Nathan“, dessen Aktualität beklommen machte: Es ist Krieg in Jerusalem, ein Waffenstillstand markiert eine kurze Atempause im Dritten Kreuzzug. Der christliche Patriarch plant die Ermordung des weisen Sultans Saladin und schickt den Klosterbruder zum Tempelherrn, der für ihn die blutige Tat erledigen soll. Doch Curd von Stauffen, von Saladin gerade wundersamerweise begnadigt, weigert sich, seinen Wohltäter umzubringen. Wie auch der Klosterbruder selbst durchschaut er die machtpolitische Kaltblütigkeit der Kirche.
Stattdessen freundet er sich mit dem Juden Nathan an, dessen Tochter Recha er aus den Flammen gerettet hat. Nathan hält an der Humanität fest, obwohl er allen Grund hätte, Hass zu predigen: Seine Frau und seine sieben Söhne fielen einem Pogrom zum Opfer. Doch Nathan trotzt den antisemitischen Anfeindungen des Tempelherrn und schließt Freundschaft mit ihm, über alle Vorurteile und Differenzen hinweg. Sein Ausruf „Kommt, wir müssen, müssen Freunde sein!“ hallt lange nach.
Dann geht das Stück, von der Wiener Truppe geschickt gekürzt, seinen Gang: Nathan erzählt dem Sultan die berühmte Ringparabel, deren Pointe darin besteht, dass allein das ethische Handeln den Wert der Religionen erweist: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!“
Als das erzwungene Happy End des Stücks – Recha und der Tempelherr erweisen sich als Geschwister, der Tempelherr ist zudem der Neffe Saladins – für ungläubiges Staunen sorgt, wird Lessings Utopie auf geschickte Weise wieder der Realität des Krieges kontrastiert: Nathan bleibt allein zurück und muss Schutz vor den wieder erwachenden Waffen suchen.
Mit nur drei Darstellern und einem Minimum an Ausstattung gelingt es dem Wiener Forum-Theater unter Leitung von Peter Arnt, zugleich den Kern und die Aktualität von Lessings Drama freizulegen. Wir bedanken uns im Namen der Fachschaft Deutsch und der Schüler*innen der Q1 und Q2 für ein eindringliches Schauspiel und den Appell, mehr Humanität zu wagen.
Text: Judith Holstein, Foto: Meike Precht